Wie wäre es wenn gerade die Schwäche und Unvollkommenheit der Grund der menschlichen Reifung und Überlegenheit wäre?

Heute möchte ich eine interessante Theorie vorstellen, die ich im Buch „Die Schönheit des Scheiterns“ von Charles Pepin gefunden habe.

Es geht um die Idee der Physiologischen Frühgeburt (nach Adolf Portmann und Louis Bolk). Die  Theorie vergleicht die Entwicklung des Menschen mit der anderer Säugetiere . Das Ergebnis ist die Idee, dass der Mensch zu früh geboren wird, denn er kommt er viel unfertiger zur Welt als andere Säugetiere wie z.B. Pferd oder Elefant. Tatsächlich erreicht das menschliche Neugeborene erst nach ungefähr einem Jahr den Reifezustand, den andere Säugetiere schon bei der Geburt erreicht haben. Der Vergleich legt nahe, dass die menschliche Schwangerschaft nicht neun, sondern 18 oder sogar 21 Monate dauern müsste. Das Ergebnis der Frühgeburt: Ein Säugetier, das nackt, schwach und hilflos zur Welt kommt, eigentlich überhaupt nicht überlebensfähig ist. Pessimisten würden sagen: Die Natur hat am Menschen versagt.

Die totale Hilflosigkeit bei der Geburt gilt zwar auch für manch andere Nesthocker aus der Tierwelt, aber beim Menschen dauert das absolute Angewiesen sein auf Familienstrukturen und Erziehung extrem lange. Alles was einen Menschen ausmacht, aufrechter Gang, Sprache, einsichtiges Denken, vernünftiges Handeln sind bei der Geburt noch nicht ausgebildet und müssen erlernt werden.

Überlebensfähig werden wir Menschen nur deshalb, weil sich andere Menschen um uns kümmern. Durch seine totale Abhängigkeit von anderen, ist der Mensch offen für soziale Kontakte und Umwelteinflüsse. Genau diese Offenheit ist die Basis für uns als soziale Wesen aber auch für unsere immense Lernfähigkeit. Und diese wiegt die Nachteile der Geburt gegenüber den anderen Säugetieren bei weitem auf.

Freud vermutet in der Frühgeburt den Ursprung unserer Fähigkeit uns zu moralischen Wesen zu entwickeln. Er schreibt 1895 im ‚Entwurf einer Psychologie‘: Die anfängliche Hilflosigkeit eines Menschen ist die Urquelle aller moralischen Motive.

Sind also gerade das „Scheitern der Natur“ und die Nicht-Überlebensfähigkeit die Basis für den Erfolg des Menschen? Konnte der Mensch nur deshalb zur „Krone der Schöpfung“ werden, weil er so unfertig und abhängig auf die Welt kommt? Wir Menschen haben keinen Instinkt, der uns vorgibt was wir brauchen und wollen. Stattdessen streben wir nach Unerreichbarem und lernen über Generationen hinweg immer weiter. Wir fallen und stehen wieder auf und lernen dabei nicht nur Laufen, sondern auch Fahren und Fliegen.

Der französische Philosoph Henry Bergson schreibt: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, dessen Handeln nicht sicher ist, das zögert und tastet, das Pläne macht in der Hoffnung auf Gelingen und in der Furcht vor dem Misslingen.

Ist es nicht verrückt, dass gerade diese Unfertigkeit der Frühgeburt, die totale Abhängigkeit von anderen Menschen und unsere Überlebensunfähigkeit die Basis für unsere Lernfähigkeit und unsere beeindruckende Entwicklung ist?

Wenn wir ein Neugeborenes sehen, das weder greifen noch laufen kann, ja noch nicht mal etwas flink mit den Augen verfolgen, dann wird und bewusst wie viel ein Mensch lernen kann, ja lernen muss. Wir alle haben so angefangen und weitergemacht, bis dahin wo wir heute sind – und morgen geht es weiter. Inzwischen ist es erwiesen, dass Lernfähigkeit unser ganzes Leben erhalten bleibt. Aus unserer größten Schwäche ist unsere größte Stärke erwachsen, dass wir lernen können und es an die nächste Generation weitergeben können.

Wenn wir das nächste Mal vor einer Herausforderung stehen, dann könnten wir mal auf unseren eigenen Lebensweg zurückblicken. Wie wir angefangen haben als kleine hilflose Wesen, die nichts allein konnten, außer atmen und schreien. Was haben wir bis heute schon alles angepackt und begriffen? Warum soll bei diesem beeindruckenden Weg gerade heute Schluss sein? Wir können viel mehr erreichen, als wir uns vorstellen können. Aber es braucht dafür Offenheit, Zeit und auch andere Menschen, die uns dabei helfen.

Andreas Gebhardt ist Jongleur & Vortragsredner und spricht in seinen Vorträgen über das Thema Fehlerkultur.