Psychologische Sicherheit vs. Angstkultur – Warum die meisten lieber nichts sagen

Montagmorgen im „Meetingraum der Stille". Gesenkte Blicke, nervöses Umblättern, maximal ein Räuspern. Die Frage des Chefs „Wie läuft das Projekt?" hängt wie Nebel in der Luft – schwer, bedrückend, unbeantwortet. Es gilt: Lieber nichts sagen, als etwas Kritisches.

Hier werden keine Fehler gemacht – sie werden vermieden. Hier ist Nichtwissen kein Ansporn zum Lernen, sondern ein potenzieller Karrierekiller. Hier sagt man lieber nichts, als etwas Falsches zu sagen – und bekommt dafür später die stille Auszeichnung in Form von einem Burnout, einer stillgelegten Innovation oder einem weiteren sinnlosen Meeting.

Kennen Sie das? Das ist nicht einfach „schlechte Stimmung". Das ist die Abwesenheit von psychologischer Sicherheit. Das ist: Angstkultur.

Psychologische Sicherheit ist kein Wohlfühl-Bonus, sondern ein messbarer Erfolgsfaktor. In einer groß angelegten Studie von Google – dem sogenannten Project Aristotle – wurde sie als der wichtigste Erfolgsfaktor für leistungsstarke Teams identifiziert. Teams mit hoher psychologischer Sicherheit lernen schneller, arbeiten effektiver zusammen, treffen bessere Entscheidungen – und machen mehr Innovation möglich.

„Entscheiden? Lieber nicht. Vielleicht nächste Woche."

Die Süddeutsche Zeitung beschreibt eindrücklich, wie sich Entscheidungsvermeidung in deutschen Organisationen anfühlt: Entscheidungen werden vertagt, verwässert oder nach oben delegiert, bis sie irgendwann ganz verschwinden. Lieber kein Risiko eingehen, lieber nichts Falsches tun – und deshalb am besten auch gar nichts.

Ein besonders schönes Beispiel aus dem Artikel:

„Mal kann ein Statiker die Stützkraft einer Mauer in ebenjenem Gebäude nicht berechnen, weil ein ‚Drop-down-Menü' eben keinen 200 Jahre alten Naturstein beinhalte. Also könne man das halt nicht genehmigen."

Was absurd klingt, ist in Wahrheit hochlogisch – wenn man Angst hat, Verantwortung zu übernehmen. Denn: Wer entscheidet, macht sich angreifbar. Und wo psychologische Sicherheit fehlt, wird Entscheiden zum Karriere-Risiko.

Das Ergebnis:
Selbstschutz wird wichtiger als die Ziele der Organisation. Fehlervermeidung ersetzt Mut.
Absicherung wird zum Leitprinzip. Das ist: Angstkultur.

Was ist psychologische Sicherheit?

Psychologische Sicherheit bedeutet: Im Team herrscht ein Klima, in dem sich Menschen trauen, ehrlich zu sein. Man darf Fragen stellen, Fehler zugeben, Kritik äußern oder Unsicherheiten teilen – ohne Angst vor negativen Folgen. Man bekommt keinen dummen Spruch, kein Augenrollen, keine Strafe und keinen Karrierenachteil – nur weil man den Mund aufmacht.

In einem sicheren Teamklima ist auch das möglich, was sonst meist für sich behalten wird:
„Ich weiß es nicht." „Ich habe Zweifel."  „Das war mein Fehler." „Ich sehe das anders."

Das klingt selbstverständlich. Aber in vielen Unternehmen ist genau das nicht möglich – weil es unangenehm oder riskant ist, sich zu zeigen. Also schweigen Menschen. Und mit dem Schweigen verschwinden Ideen, Hinweise, Warnungen und Lösungen.

Psychologische Sicherheit bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Angst, sondern auch das Fordern der kritischen Meinung, der Fragen und Anmerkungen. Ray Dalio, Grüner von Bridgewater Associates sagt sogar: „Niemand hat das Recht, eine kritische Meinung zu haben, ohne darüber zu sprechen."

Doch genau das passiert in Angstkulturen. Menschen haben kritische Gedanken – aber sie äußern sie nicht. Warum? Weil Scheitern sich schlecht anfühlt. Und zwar nicht nur ein bisschen, sondern existenziell.

Astro Teller, CEO von X (ehemals Google X), beschreibt das so:
„Scheitern fühlt sich für uns unangenehm an. Besonders in der Arbeitswelt. Es ist ganz natürlich, sich Sorgen darüber zu machen, was andere Leute denken und ob man den Job verliert. Deshalb werden Menschen das Scheitern vermeiden – es sei denn, eine Führungskraft macht es ausdrücklich und aktiv psychologisch sicher, zu scheitern."

Das sagt keiner aus einem Kuschel-Seminar, sondern jemand, der ein Hochrisiko-Innovationslabor leitet – mit Projekten wie selbstfahrenden Autos, Internetballons oder Lieferdrohnen. Fehler sind dort Alltag – und sie werden erwartet.

Mit anderen Worten: Nicht nur dulden, dass Menschen sich äußern – sondern sie ausdrücklich dazu einladen.  Führungskräfte, die psychologische Sicherheit schaffen wollen, müssen aktiv nachfragen: „Was denkt ihr? Was übersehen wir? Was spricht dagegen?"

Denn psychologische Sicherheit ist kein Wohlfühlklima – sondern ein Lern- und Entwicklungsklima.  Dieses Konzept bedeutet nicht, dass sich alle immer verstehen und alles harmonisch läuft. Im Gegenteil: Es ist die Grundlage dafür, dass Konflikte offen angesprochen und unterschiedliche Meinungen angstfrei verhandelt werden können. Ohne diese Basis verflüchtigt sich jedes Potenzial – leise, aber sicher.

Wie man psychologische Sicherheit herstellt – 5 Dinge, die Führung sofort tun kann

Angstfreier Raum fällt nicht vom Himmel. Er entsteht nicht durch ein Leitbild oder ein Poster auf dem Flur, sondern durch das tägliche Verhalten der Führungskraft. Wenn du willst, dass Menschen im Team ehrlich sind, Fragen stellen und Fehler zugeben, dann musst du es ihnen auch ermöglichen.
Amy Edmondson nennt dafür fünf konkrete Wege – hier kommen sie in klarer Sprache, mit echten Beispielen:

1. Den Rahmen setzen: Sag, was du willst

Sag deinen Leuten: „Wir arbeiten an komplexen Dingen. Ich erwarte nicht, dass alles glattläuft. Aber ich erwarte, dass wir offen miteinander reden." Klingt simpel – ist aber ein riesiger Unterschied. Denn wenn du nicht klar machst, dass Feedback, Kritik und Fragen erwünscht sind, dann wird auch niemand welche äußern.

-> Schaffe den Raum für Unsicherheit – bevor sie sich in Angst verwandelt.

2. Zeig deine eigene Unsicherheit

Sag es laut:
„Ich weiß es nicht." „Ich bin mir da auch unsicher." „Vielleicht habe ich da etwas übersehen." So simpel. So stark. Amy Edmondson sagt: „Führende, die bereit sind, ‚Ich weiß es nicht' zu sagen, spielen eine überraschend wirkungsvolle Rolle für die Begeisterung der Mitarbeitenden."

-> Denn wenn du dich als Führungskraft nicht unfehlbar gibst, erlaubst du dem Team das Gleiche: echt zu sein.

3. Hör zu – und meine es ernst

Stell offene Fragen: „Was spricht gegen diesen Plan?" „Wo seht ihr Risiken?"  „Was hätten wir fast übersehen?" Und dann: Schweigen aushalten. Nicht sofort selbst wieder reden.

->  Nur wenn dein Team merkt, dass du wirklich wissen willst, was sie denken, werden sie es dir sagen.

4. Sag Danke – für Kritik, nicht nur für Erfolge

Wenn dir jemand Feedback gibt, ein Risiko benennt oder einen Fehler zugibt: Sag danke. Nicht „schade", nicht „muss das sein", nicht „jetzt echt?" Ein ehrliches Danke ist die Eintrittskarte in eine echte Fehlerkultur.

-> Denn deine Reaktion entscheidet, ob es beim nächsten Mal nochmal jemand wagt, etwas zu sagen.

5. Zeig, dass das Gesagte Wirkung hat

Wenn jemand etwas Kritisches äußert oder ein Problem benennt: Reagiere. Frag nach. Tu etwas. Zeig, dass es zählt. Nur wenn Worte Folgen haben, wird sich ein Team langfristig trauen, die Stimme zu erheben.

->Zeig, dass die Beiträge eine Bedeutung haben.

Beispiele aus der Praxis: Kleine Ideen, große Wirkung

Ein vertrauensvolles Klima lässt sich oft mit einfachen Mitteln stärken – wenn sie ernst gemeint sind. Einige Unternehmen machen es vor:

  • Bei URENCO gibt's für jede gemeldete Fehlergefahr einen Safety-Coin, den man gegen ein Frühstück eintauschen kann. Viele behalten ihn lieber als Ehrenzeichen im Regal – weil der Beitrag zählt.

  • Der skandinavische Spielehersteller Supercell geht noch weiter:  Fehler werden mit Champagner gefeiert.  Schampus statt Schelte. Fehlerkultur als Mutkultur.

  • Und wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, greifen andere Unternehmen zur charmanten Idee der „Gefängnisfreikarte": Mitarbeitende bekommen sie am Jahresanfang – und dürfen sie einsetzen, wenn mal ein Projekt scheitert. Keine Schuldzuweisung, keine Predigt. Nur ein deutliches Signal: Fehler gehören dazu. Entscheiden ist erwünscht.

Fazit: Mut braucht Raum – und jemanden, der ihn schützt

Psychologische Sicherheit entsteht nicht durch Zufall. Sie entsteht, wenn Führung den Mut der anderen schützt – mit Haltung, mit Ehrlichkeit und mit der Bereitschaft, auch mal selbst zu sagen: „Ich weiß es nicht."

Denn wer möchte, dass Menschen Verantwortung übernehmen, muss zuerst dafür sorgen, dass sie keine Angst haben müssen, sie zu tragen.

Und vielleicht beginnt alles mit einer simplen Frage im nächsten Meeting:
„Was haben wir übersehen – und wer hat den Mut, es laut zu sagen?"

Über den Autor – Andreas Gebhardt

Andreas Gebhardt ist Fehlerfreund und Mutmacher. Speaker, Jongleur und Experte für Veränderung mit Haltung.
Seit über 20 Jahren steht er auf Bühnen – nicht nur mit Jonglierbällen, sondern mit klaren Botschaften: über Verantwortung, Mut, Fehlerkultur und den Wert des bewussten Risikos.

Mit Humor, Tiefe und Praxisbezug zeigt er, wie Unternehmen angstfreie Räume schaffen können – damit Menschen sich wieder trauen zu denken, zu sprechen und zu entscheiden.

 Mehr über seine Keynotes und Impulse: www.andreasgebhardt.de/vortraege

Quellen & Literatur

  • Amy C. Edmondson (2020): Die angstfreie Organisation – Wie Sie psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz für mehr Entwicklung, Lernen und Innovation schaffen, Vahlen Verlag, München.  (Originaltitel: The Fearless Organization, 2018)

  • Süddeutsche Zeitung (2016): Mutlosigkeit in deutschen Unternehmen – Warum es an einer Entscheidungskultur fehlt, Artikel von Max Hägler, erschienen am 17. November 2016, www.sueddeutsche.de

  • Google Re:Work (2016): Project Aristotle – What Google learned from its quest to build the perfect team
    Link: https://rework.withgoogle.com/print/guides/5721312655835136/