Die Suche nach der Gelassenheit im Umgang mit Fehlern

Dies ist die Fortsetzung des Artikels Kopfkino oder Fehler machen de luxe

Nun, wie ging es weiter? Wie schaffte ich es, das Kopfkino abzustellen und aus dem Teufelskreis der Fehlervermeidung herauszukommen? Wie schaffe ich es Gelassenheit im Umgang mit Fehlern zu erreichen?

Zuerst habe ich natürlich versucht weniger über Fehler nachzudenken, das hat allerdings nicht geklappt. Schließlich war das alles eine Woche bevor ich  meinen Vortrag  zum Thema „Fehler“ auf Englisch halten sollte, und ich musste den Text dafür noch übersetzen. Also habe ich zwischen der Vorbereitung des Vortrages und den abendlichen Shows eine Pause mit bewusstem Ablenkungsprogramm unternommen. Aber abends auf der Bühne war das Kopfkino immer noch an. Beim  Mich-warm-Jonglieren kroch mir die Angst in den Nacken und das Kino war wieder da. Und auch wenn der Schlusstrick geklappt hat, so war es eher Zufall als Können. An manchen Shows in diesen Tagen hat der Schlusstrick wieder erst beim zweiten oder dritten Versuch geklappt und die mentale Bürde, den jeweils nächsten Versuch überhaupt zu unternehmen, war immens. Am liebsten wäre ich einfach davongelaufen und die Sekunden zwischen den Versuchen waren gefühlte Stunden. Ich versuchte mir klarzumachen, dass die Zuschauer die Darbietung zum ersten Mal sehen und gar nicht wissen, was gestern und vorgestern los war, sie wissen nicht was für ein Druck in meinem Kopf herrscht und was für ein Kopkino bei mir läuft.  Die Idee war, wirklich im Moment anzukommen und mir voll bewusst zu sein, dass ich jetzt gerade, im Moment, nur für die Zuschauer da bin. Dann müsste der Teufelskreis durchbrochen sein, denn der nährt sich ja aus der Vergangenheit und wirft Schatten in die Zukunft – kann er da im Jetzt überhaupt existieren? Aber solche Gedanken sind ziemlich schwer zu realisieren, erst recht wenn sie so zweckgebunden eingesetzt werden sollen. Das ist eher eine philosophische Frage, die eine Lebenseinstellung ausmacht und mir in diesem Moment eben nur begrenzt hilft.

Beim Warm-Jonglieren versuchte ich herauszufinden woran der Trick scheitert. Es muss ja einen technischen, handwerklichen Fehler geben, der für das Scheitern verantwortlich ist. Es stellte sich heraus, dass es der Abwurf ist.  Wenn ich Angst vor dem Scheitern habe, dann werfe ich verhalten ab, es fehlt der Elan, der Schwung, die Höhe und dann kann ich die Stöcke nicht wieder auffangen, egal wie gut die Pirouette ist. Wenn ich allerdings keine Angst habe, im Training, in der Vorbereitung, dann werfe ich mit dem nötigen Schwung ab, in perfekter Höhe, mit Eleganz und  Leichtigkeit und dann klappt es, selbst wenn die Pirouette nicht perfekt ist.

Also musste es mein Ziel sein, die Angst in den Griff zu bekommen.Es ist ein doppelter Kampf, einmal geht es um das handwerkliche Geschick, das für den Erfolg der Jonglage auf technischer Seite notwendig ist, und der zweite Kampf ist der mentale. Wer hat die Oberhand im Kopf, der Fehler oder ich?

Der erste Gedanke war es, die Angst vorzuverlegen, also mich bereits im Vorfeld damit abzufinden, dass es ohnehin schiefgeht. Denn wenn ich damit rechne, dass es schiefgeht, und darauf eingestellt bin, dann brauche ich auch keine Angst mehr davor zu haben. Dann stellt sich allerdings die Frage, warum ich den Trick überhaupt mache, wenn ich eh davon ausgehe, dass er nicht klappt. Zudem führe ich mich damit offensichtlich selbst an der Nase herum, denn ich mache das alles ja nur, damit es klappt. Und wenn ich will, dass es klappt, dann kann ich ja nicht damit rechnen, dass es nicht klappt. Jedenfalls klappte diese Taktik nicht.

Dann versuchte ich mir klarzumachen, dass die Nummer auch andere Qualitäten hat und der Schlusstrick nur einer von vielen ist. Der Sinn der Nummer ist ja nicht der Schlusstrick, sondern die Ganzheit des Zusammenspiels von Jonglage, Musik, Emotionen, Jongleur und Publikum. Und wenn da ein Fehler passiert, dann ist das das Durchblitzen von Menschlichkeit. Und diese Menschlichkeit verbindet mich als Jongleur mit dem Publikum. Als verbindungsstiftende Gemeinsamkeit trägt der Fehler also zum Erfolg der Nummer bei. Also ist doch ein Fehler per se erst mal was Gutes. Oder wie Edgar Degas es wohl gesagt haben soll, auf die Frage, warum er seinen Mädchen an der Ballettstange immer wieder einen krummen Fuß oder ein hässliches Gesicht hinmalt: „Man muss das Schöne brechen, damit es erträglich ist.“  Die Nummer bleibt also trotzdem gut, auch wenn der Schlusstrick schiefgeht. Vielleicht wird sie dadurch sogar besser.

Darüber hinaus machte ich mir klar, dass dieser Trick und diese Nummer und dieses Engagement nur ein kleiner Teil meines Lebens und meines Selbst ausmachen. Ich bin größer als der Trick, also sollte es mir doch möglich sein, ganz gelassen an die Sache herangehen. Gelassenheit passt ja ganz gut, wenn es ums Loslassen in Form von Werfen geht.

Also auf geht’s zur Gelassenheit: Ich bin O.K. Die Nummer ist O.K. Es gibt keinen Grund, an mir oder meinen Fähigkeiten zu zweifeln. Ich kann auch zufrieden sein, wenn es mal schiefgeht. Schließlich habe ich den Job, den ich liebe, und ein gutes Leben und jeder halbwegs reflektierte Mensch um mich herum kennt die Herausforderungen des Jonglierens und verzeiht Fehler. Ich bin ja schließlich auch nur ein Mensch und keine Maschine. Nein, besser noch. Ich bin nicht nur eine Maschine –  ich bin viel mehr: ich bin ein Mensch und genau deshalb mache ich Fehler und genau deshalb schauen auch Menschen zu. Wer will schon eine Maschine sehen?

Ich als Mensch kann mit den Eventualitäten (so nenne ich den Fehler jetzt mal) umgehen. Ich bin nicht fixiert auf den Erfolg des einen Tricks. Ich habe die Größe, darüber zu stehen und weiter zu blicken, und trotzdem mag ich diesen Fehler nicht. Ist es nicht genau dieses Spannungsfeld, das Jonglage ausmacht? Etwas riskieren, und wenn es schiefgeht eben nicht gleich die Stöcke zerbrechen und heulend und fluchend davonstampfen, sondern sich dem komplexen Spiel des Loslassens und Fangens, der Spannung zwischen der Leichtigkeit des Fluges und der Schwere des Fallens hingeben. Und dieses Spiel gemeinsam mit dem Publikum erleben. Die Balance, diese Widersprüche zwischen Loslassen und Fangen, Leichtigkeit und Schwere, Erfolg und Fehler machen es erst spannend, einen Jongleur zu sehen (oder auch selbst zu jonglieren).  Wäre ich denn überhaupt ein Jongleur, wenn alles klappen würde? Obwohl ich den Erfolg anstrebe und versuche Fehler zu vermeiden?

Und wie bekomme ich diese Gelassenheit nun 6 Minuten und 25 Sekunden nach Nummernbeginn hin?

Erstaunlich finde ich, dass ich diesen Trick jahrelang sehr zuverlässig geschafft habe, und nun, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, wird der Erfolg plötzlich schwieriger. Es ist, als sei ein Virus in meine Arbeit und mein Denken eingedrungen. Seit dem Ausbruch des Virus sind nun schon zwei Monate vergangen und bei jeder Show ist die Herausforderung in vollem Umfang da, jegliche Gelassenheit ist weg. Dennoch wird die Herausforderung von Show zu Show ein wenig kleiner –  das Kopfkino läuft noch, aber die Leinwand schrumpft. Es ist, als wäre mein erfolgreiches zuverlässiges Jonglieren wie ein Wasser, in das ein Stein gefallen ist, und nun findet es nur sehr langsam wieder zur Ruhe.

Sollte ich mir wünschen, diese Gedanken wären nie aufgetaucht? Waren all diese Gedanken unnütz? Erreiche ich dadurch ein anderes Level an Gelassenheit, Bewusstsein oder Entspanntheit auf der Bühne? Tja, keine Ahnung. Es ist, wie es ist.

Aber eines ist klar, das Erleben des Teufelskreises ist wie ein Stachel, der mich zum Nachdenken bringt, der mich dazu zwingt, mich auf den Weg zu machen. Ich muss meine Gedanken neu sortieren und mein Denken neu ausrichten, um zu einer neuen Gelassenheit zu finden. Dazu haucht die Angst vor dem Fehler der Nummer Emotionalität ein, sozusagen etwas „Drama“. Es ist für mich gerade sehr spannend, diese Nummer zu jonglieren. Der Fehler wirkt also belebend. Und wenn es dann klappt, dann freue ich mich, bin ich erleichtert, zufrieden und selig. Der Fehler verleiht dem Erfolg erst Bedeutung. Ein Glück, dass es den Fehler gibt.

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Hier geht es zur Fortsetzung Kopfkino – Lassen und gelassen werden

Informationen zum Vortrag Fehlerkultur vom Redner Andy Gebhardt

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