Führen in kritischen Momenten bedeutet: Alle Blicke sind auf Ihre Abteilung gerichtet sind. Ein Projekt ist im entscheidenden Moment, die Situation ist angespannt, die Stimmung hochkonzentriert. Jetzt zählt Ihre Haltung. Ihre Reaktion. Ihre Entscheidung.
Was verstehen Sie unter Führen in kritischen Momenten? Und vor allem: Wie verhalten Sie sich, wenn der Ausgang ungewiss ist und die Lage auf Messers Schneide steht? Denn Ihre Reaktion hat großen Einfluss darauf, wie es weitergeht, nicht nur operativ, auch kulturell.
Was dabei gerne unterschätzt wird: In solchen Momenten prägt Ihr Verhalten als Führungskraft nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Kultur. Es entscheidet darüber, ob Ihr Team in Angst verfällt oder Verantwortung übernimmt. Ob Fehler vertuscht oder genutzt werden. Ob Ihre Mitarbeitenden wachsen oder innerlich kündigen.
Und hier kommt ein psychologischer Mechanismus ins Spiel, den man kennen sollte: Unser Gehirn neigt dazu, eigene Stärke zu überschätzen – und die Ursachen von Fehlern bei anderen zu verorten. Das führt zu falschen Schlussfolgerungen. Und zu einer Atmosphäre, in der Mitarbeitende sich nicht trauen, offen zu sein.
Was stattdessen hilft, zeigt eine kurze Geschichte aus der Welt der Bühne – vom Jonglieren auf Messers Schneide.
Jonglieren auf Messers Schneide – ein Erfahrungsbericht
Früher, als ich noch als Jongleur aktiv war, hatte ich einen einzigartigen Schlusstrick. Schwer, komplex, technisch anspruchsvoll und nur mit voller Konzentration machbar.
Ich erinnere mich noch an eine Show, bei der eine Entscheiderin aus der Varieté-Szene im Publikum saß. Sie buchte für eine größere Kette. Es war also nicht irgendein Auftritt – es ging um mehr. Strategisch wichtig.
Der Schlusstrick kam näher. Ich war angespannt. Dann das Unglück: der Trick ging schief.
Das Problem auf der Bühne: Alle sehen es. UND zwar nicht nur den verpatzten Trick, sondern auch meine Reaktion darauf: Aber ich war vorbereitet und sagte lächelnd: „Das war keine Absicht." Das Publikum lacht – aber man spürt: Sie sind sich nicht sicher. War das jetzt Teil der Show? Oder nicht?
Zweiter Versuch. Ich traue mich nicht zu der Entscheiderin zu schauen. Der Druck steigt. Nicht von außen, sondern von innen. Das Publikum ist freundlich. Ich bin es mit mir selbst nicht. Und es geht wieder schief.
Dritter Versuch. Jetzt kommt es darauf an. Jetzt wird es ernst. Ich sehe die Entscheiderin mit verschränkten Armen. Sie sagt etwas zu Ihrer Sitznachbarin. Was sagt Sie wohl? Bin ich schon abgehakt? Ich spüre: Innerlich bin ich völlig durch. Ich werfe ab und … (* Das Ende gibt's am Ende 😉)
Was dabei auffällt: Der Trick ist nicht das Problem. Die Technik habe ich. Die Herausforderung liegt im Kopf. Und genau dort entscheidet sich, wie wir mit Druck, Erwartung und Fehlern umgehen, auf der Bühne genauso wie in Unternehmen.
Wie psychologische Denkfehler in kritischen Momenten zu Fehlverhalten führen
In der Geschichte war es die Entscheiderin im Publikum, die den inneren Druck erzeugt hat. Sie hat kein Wort gesagt, keine direkte Anweisung gegeben und trotzdem veränderte ihre bloße Anwesenheit meine gesamte Performance.
So subtil dieser Effekt ist, so real ist er. Und er passiert auch in Unternehmen täglich. Führungskräfte glauben oft, ihre Präsenz motiviert, ihr Eingreifen sei förderlich, ihre Rückmeldung bringe Klarheit. In Wirklichkeit kann genau das Gegenteil eintreten besonders in kritischen Momenten, wenn das Team bereits unter Anspannung steht.
Der Grund dafür liegt in einer Reihe psychologischer Denkfehler, die wir im Führungsverhalten regelmäßig beobachten:
- Illusion of Control – Die Illusion der Kontrolle
Führungskräfte glauben, mehr Einfluss auf das Ergebnis zu haben, als tatsächlich der Fall ist. „Wenn ich jetzt präsent bin und Druck mache, wird das schon gut gehen." Doch das Gegenteil ist häufig der Fall: Druck wird oft mit Leistungssteigerung verwechselt – dabei erzeugt er meist das Gegenteil. Statt Sicherheit und Klarheit zu schaffen, entsteht zusätzlicher Stress, der die Fehlerwahrscheinlichkeit erhöht. Was als hilfreich gemeint ist, wird zur Belastung..
- Beobachtungseffekt (Hawthorne-Effekt)
Allein das Wissen, dass jemand mit Einfluss zuschaut, verändert das Verhalten. Menschen reagieren empfindlich auf subtile Hinweise: Körpersprache, Mimik, fehlendes Lächeln – und interpretieren das als Erwartung oder Missfallen. Das kann dazu führen, dass Mitarbeitende sich weniger sicher fühlen, mehr Fehler machen oder blockieren.
- Fundamentaler Attributionsfehler
Wenn etwas schiefläuft, suchen viele Führungskräfte die Ursache im Team: „Die haben das nicht richtig umgesetzt." Was sie oft nicht sehen: Ihr eigenes Verhalten – z. B. ungünstige Kommunikation, kurzfristige Zieländerungen oder übermäßige Präsenz – hat den Druck erhöht und damit zum Problem beigetragen.
Zusammengefasst:
Viele Führungskräfte handeln mit der Überzeugung, dass ihr Verhalten die Lage verbessert und merken nicht, dass es das Gegenteil bewirkt.
Nicht aus bösem Willen – sondern durch unbewusste kognitive Verzerrungen, die ihre Selbstwahrnehmung verzerren.
Reflexionshilfe: Bin ich gerade Unterstützung oder Belastung?
Nutzen Sie diese Fragen als „Denk-Check", wenn Sie in angespannten Situationen agieren oder präsent sind:
- Bin ich gerade wirklich hilfreich – oder will ich nur Kontrolle behalten?
- Strahle ich Vertrauen aus – oder sende ich ungewollt Misstrauen?
- Würde ich mir in dieser Situation selbst gerne beim Arbeiten zusehen?
- Habe ich klar kommuniziert, was ich erwarte – oder fülle ich die Stille mit Druck?
- Kennt das Team meine Anwesenheit als unterstützend – oder als Prüfungsmodus?
Habe ich gefragt, ob sie Unterstützung brauchen – oder gehe ich davon aus, dass sie es tun?
Führen in kritischen Momenten beginnt mit Selbstreflexion
Vielleicht geht es beim Führen in kritischen Momenten gar nicht darum, immer präsent zu sein, alles im Griff zu haben oder mit Erwartungshaltung Druck zu erzeugen. Vielleicht geht es eher darum, die eigene Wirkung zu kennen und bewusst dosiert einzusetzen.
In meiner Geschichte war es nicht der Trick, der schwierig war. Es war mein eigener Kopf. Meine Interpretation. Mein innerer Dialog in Anwesenheit einer Entscheiderin, von der ich nicht wusste, wie sie gestimmt ist.
Genauso erleben viele Teams ihre Führung: beobachtend, bewertend, schweigend. Und füllen diese Lücke mit Unsicherheit.
Die gute Nachricht: Führungskräfte können lernen, ihre Wirkung zu reflektieren. Sie können fragen statt fordern. Vertrauen schenken statt Kontrolle ausstrahlen. Präsenz zeigen ohne zu dominieren. Also, wenn Sie als Führungskraft Präsenz zeigen wollen, stellen Sie sicher, dass sie nicht wie Kontrolle wirkt. Denn wer seine Wirkung kennt, kann Raum schaffen. Und in diesem Raum entsteht echte Leistung.
Denn unter Druck entstehen keine Diamanten. Sondern Denkfehler.
PS: Wie es ausging
Der dritte Versuch ging übrigens schief. Ich habe mich geschämt und wollte am liebsten im Boden versinken.
Nach der Show kam die Entscheiderin zu mir – und war begeistert von meiner Nummer. Sie sagte, sie wisse, dass ihre Anwesenheit Stress erzeugt. Und dass viele erfahrene Jongleure und Artisten – ich war damals noch jung – Fehler machen, nur weil sie da ist.
Sie schilderte mir ihr Dilemma: Sie muss beobachten, um entscheiden zu können. Aber sie weiß auch, dass genau diese Beobachtung Druck erzeugt – ob sie will oder nicht.
Und dann buchte sie mich. 😊
Andreas Gebhardt
ist seit 2014 als Speaker unterwegs. Er ist Fehlerfreund & Mutmacher für Organisationen im Wandel. Als Keynote-Speaker begleitet er Führungskräfte in den in der Gestaltung der Fehlerkultur und er ist auch Mutmacher für Veränderung..
Bevor er auf die Businessbühne wechselte, stand er fast 20 Jahre lang als Jongleur und Entertainer auf internationalen Bühnen – in Varietés, auf Kreuzfahrtschiffen und Festivals weltweit. Seine Erfahrungen aus dieser Zeit prägen bis heute seinen Blick auf kritische Führungssituationen: Was auf der Bühne zählt – Haltung, Fokus und klare Ziele– gilt auch in der Führung.

Quellen & Literatur
Amy C. Edmondson (2020): Die angstfreie Organisation – Wie Sie psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz für mehr Entwicklung, Lernen und Innovation schaffen, Vahlen Verlag, München. (Originaltitel: The Fearless Organization, 2018)
- Carsten C. Schermuly (2023): Die Psychologie der Macht – Wie Führungskräfte sie nutzen und ihr verfallen.
Haufe Verlag, Freiburg.